125 Jahre GWG
Blick nach vorn beim Fachtag Wohnen
Die Wurzeln der GWG Tübingen reichen 125 Jahre zurück, bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, ganz genau: 1899. Und so stand im Jahr 2024 ein Jubiläum an. Sein fünftes Vierteljahrhundert feierte das Unternehmen allerdings nicht mit Schlaglichtern in die Vergangenheit, sondern mit einigen Blicken in die Zukunft. Vier Fachvorträge boten grundverschiedene Perspektiven darauf, wie Wohnen künftig sein und weiterentwickelt werden kann.
Vier Fragen hatte die GWG vorab an die Fachleute verschickt – Themen, die am Fachtag beleuchtet werden sollten:
• Was ist aktuell »State of the Art« für die Architektur von Wohnungsbau?
• Wie kann die GWG gut darauf reagieren, dass unter ihren Mieterinnen und Mietern viele Haushalte mit
Migrationserfahrungen sind?
• Sind und leben die Mieterinnen und Mieter der GWG anders als der Durchschnitt der Tübinger Bevölkerung?
• Wie gehen die Mieterinnen und Mieter mit den Wohnungen der GWG um?
Prof. Susanne Dürr
Architektin, Karlsruhe
Wohnoptionen – zwischen Konvention und Innovation
Heutige Biografien kennen selten kontinuierliche Lebensläufe. Daraus schloss Susanne Dürr: Auch die Standard-Wohnlösungen passen dann nicht mehr, die in früheren Jahrzehnten so häufig gebaut wurden, wie das Einfamilienhaus oder die Wohnung für ein Ehepaar mit zwei Kindern. Für Biografien mit Wechseln, Brüchen und Entwicklungsschritten brauche man stattdessen verschiedene, auch veränderbare Hüllen. Wohn-Lösungen sollen daher adaptiv sein, außerdem gemeinschaftsorientiert und produktiv – das heißt, sie sollen die Integration von Arbeit ermöglichen.
Was »gesund wohnen« bedeute, habe sich ebenfalls verschoben: Früher dachte man dabei an körperliche Gesundheit und die gut besonnte, durchlüftbare Wohnung. Heute steht die psychosoziale Gesundheit im Fokus: Wohnung und Wohnumfeld sollen Bereiche sein, in die man sich zurückziehen und Stress bewältigen kann, außerdem auch Orte der Begegnung, gegen Einsamkeit.
Lösungen suchte sie zwischen Konvention, wozu sie auch Tradition und Bewährtes zählte, und Innovation. Ihr Rückblick auf Gutes führte beispielsweise nach Karlsruhe, wo in der Dammerstock-Siedlung in den 1920ern getestet wurde, ob serielles Bauen eine Lösung für den hohen Bedarf an Wohnungen sein kann. Sie erinnerte auch an die »Frankfurter Küche«, die hohe Funktionalität auf sechseinhalb Quadratmetern bietet.
Susanne Dürr schaute sich einzelne Elemente der Wohnung genau an. Wie können diese zur Wohn- und Lebensqualiät beitragen und gleichzeitig auf Herausforderungen wie den Klimawandel reagieren?
Die Tür: Sie schafft Schutz und Durchblicke. Wenn sie mehrere Flügel hat, kann dies Varianz und Großzügigkeit in immer kompakter werdende Wohnungen bringen. Sie wird künftig genutzt werden, um Querlüftung zu ermöglichen und die Wohntemperatur zu regeln. Der Balkon: Er kann eine Art Zimmer im Freien sein, gern nicht einsehbar und vor Wind und Wetter geschützt. Die Fensternische: Sie ist zusätzlich nutzbar als Schrank, als Wand, mit Pflanzen darin als kleine Oase, mit einem Vorhang davor sogar als Rückzugsort. Kleine Wohnungen erzeugen bei Menschen das Gefühl, sie hätten geringe Handlungsmöglichkeiten. Ausblicke ins Grüne und Durchlüftbarkeit schaffen dann Gegengewichte.
Sie präsentierte Etagen-Grundrisse mit so genannten Joker-Räumen: So nennt sie Räume, die an mehrere Wohnungen angrenzen und je nach Bedarf vergeben und genutzt werden können. Auch wenn man mehrere Wohnungen mit Türen verbindet, sorgt dies für mehr Wandlungsfähigkeit. Ihr Plädoyer: intelligente Grundrisse!
Sie zeigte auch Beispiele für verschiedene Treffpunkte und Aufenthalts-Orte: überdachte, beschattete Bereiche draußen; Laubengänge, die als private Balkone dienen und zugleich Begegnung im Vorbeilaufen ermöglichen; Treppenhäuser, in denen man sich für ein kurzes Gespräch gern aufhalten mag, weil sie natürliches Licht haben und Raum bieten, beispielsweise auf Treppenabsätzen oder kleinen Terrassen, die vom Treppenhaus aus zugänglich sind.
Miteinander reden, experimentieren, forschen und gemeinsam nach innovativen Lösungen auf Grundlage des schon Bekannten suchen – das sind für sie die Wege in die Zukunft.
Der Vortrag von Frau Prof. Susanne Dürr als Video:
Dr. Gesa Ingendahl, Prof. Dr. Reinhard Johler
Empirische Kulturwissenschaftler, Tübingen
Passende Wohnungen. Kulturwissenschaftliche Sondierungen in der Tübinger Weststadt
Was ist wann für wen gute Architektur? Wann wird welcher Wohnraum benötigt und erträumt? Was tun Mieterinnen und Mieter, um sich ihre Wohnung anzueignen, sie so zu gestalten, dass sie als individuell passend erlebt wird? Das hat ein Forschungsprojekt des Instituts für Empirische Kulturwissenschaft der Uni Tübingen mit leitfadengestützten Interviews herauszufinden versucht. Befragt wurden Mieterinnen und Mieter der GWG in der Tübinger Weststadt. Sie gehörten keinem bestimmten Milieu an.
Der Raum, in dem man lebe, das Zuhause müsse mehrere Funktionen erfüllen – man braucht ihn für die alltäglichen Handlungen, aber er soll auch das repräsentieren, was den eigenen sozialen Vorstellungen entspricht. Dies gelinge in Mietwohnungen zwar nur eingeschränkt, aber viele schöpfen ihre Möglichkeiten aus.
Denn eine perfekt »passende Mietwohnung« gebe es meist nicht. Das führt in der Praxis zu zwei Strategien: Entweder die Menschen passen sich an die Wohnungen an. Oder sie passen die Wohnung an sich an. Welche Strategie eingesetzt wird, sei oft eine Frage der persönlichen Haltung, des Charakters. Einigen macht es Freude, die Wohnung zu modifizieren und umzubauen, beispielsweise indem sie die Zuordnung der Räume ändern oder Wände bunt streichen. Andere sorgen dafür, dass ihr Zuhause möglichst schlecht einsehbar ist. Oder sie eignen sich Schwellenräume an, etwa im Garten, zwischen Gebäuden, im Keller. Anderen falle es eher leicht, ihre Haltung zu ändern: Sie gewöhnen sich an bestimmte Geräusche oder fangen an, eine kleine Küche bequem und praktisch zu finden.
Das Uni-Team berichtete darüber, wie unterschiedlich Räume interpretiert werden können. Beispiel Balkon: Manche machen daraus eine grüne Oase, grillen dort oder führen abends Telefonate. Für andere eignet er sich gut als Zwischenlager für Müll, weil die Wege so kurz sind.
Die vorgestellten Ergebnisse waren ein Zwischenstand, die Forschungsarbeiten liefen danach noch weiter. Prof. Johler hatte bereits einige Empfehlungen fürs Wohnen der Zukunft und für die Art, wie die GWG ihre Rolle als Vermieterin gestalten könnte. Er plädierte für architektonische Ermöglichung: Eine gute Architektur aus Mieter-Sicht wäre, wenn sie Möglichkeiten dafür schafft, dass die Nutzerinnen und Nutzer sich ihre Wohnung aneignen und gestalten können. Es brauche innovative Vermieter, die dafür offen sind.
Der Vortrag von Frau Dr. Gesa Ingendahl und Herrn Prof. Dr. Reinhard Johler als Video:
Prof. Boris Nieswand
Soziologe, Tübingen
Vielfalt in der Stadt. Zusammenleben in der Einwanderungsgesellschaft
Der auf Migration und Diversität spezialisierte Soziologe Boris Nieswand präsentierte als Einstieg viele Zahlen. Lokale Zahlen aus Tübingen: Hier hatten im Jahr 1961 nur etwa 3 Prozent der Bevölkerung keine deutsche Staatsbürgerschaft. 2023 lag der Anteil fast fünfmal so hoch, bei 17,7 Prozent. Rechnet man auch Menschen mit deutscher Staatsbürgerschaft mit ein, kam Tübingen im Jahr 2023 auf insgesamt 33 Prozent Bevölkerung mit Migrationshintergrund.
Verändert hat sich in diesen Jahrzehnten auch, woher die internationalen Mitbürgerinnen und Mitbürger kommen. Migration wurde globaler. Bis 1973 wurden so genannte Gastarbeiter angeworben, deren Familien oft folgten. Die meisten kamen aus Südeuropa: 66 Prozent der Ausländer stammten aus den vier Ländern Jugoslawien, Türkei, Griechenland und Italien. 85 Prozent der Ausländer waren Europäer. Aktuell sind noch 58 Prozent der Ausländer aus Europa und 29 Prozent aus besagten vier Ländern. Weitere 27 Prozent stammen jetzt aus Asien, aus China, Afghanistan, Syrien – viele Geflüchtete, aber auch viele Akademiker, eine sehr heterogene Gruppe, so Nieswand.
Tübingen sei bei all diesen Entwicklungen ziemlich durchschnittlich, kein Sonderfall. Der Trend sei bundesweit ähnlich. Allerdings gehöre Baden-Württemberg zu den Ländern mit einem eher starken Anstieg, das sei typisch für Länder mit einer vergleichsweise jüngeren Bevölkerung.
Ohne Zuwanderung wäre die deutsche Bevölkerung seit 1972 geschrumpft. Seitdem sei jedes Wachstum ausschließlich durch Migration entstanden, betonte Soziologe Prof. Nieswand. Mit dem Ruhestand der Babyboomer werde Migration noch wichtiger: Rund eine Million Zuwanderer pro Jahr seien nötig, um den Rückgang der Erwerbsbevölkerung abzufedern. »Wir sind gewohnt, Migration als Problem zu sehen. Aber damit kommen wir nicht weiter. Migration ist unsere Chance, den Wohlstand zu bewahren, die Alten und Kranken zu pflegen und die marode Infrastruktur wieder aufzubauen«, so Nieswand.
Umstritten sei in der Soziologie, in welchem Maß gemeinsame Werte und Normen eine Gesellschaft zusammenhalten können. Sicher sei: In immer mehr Städten werde die bisherige ethnische Mehrheit zur Minderheit. Wird es diesen Menschen genügen, wenn man ihren Lebensstil und ihre Wertordnung als »gleich« anerkenne? Oder befeuert ein Anspruch, »besser« zu sein, politische Polarisierung?
Ein Blick in die Geschichte zeigt laut Nieswand: Konflikte zwischen sozialen Gruppen – Konfessionen, Klassen oder Regionen – prägten Deutschland schon immer. Ein Miteinander funktionierte vor allem dann, wenn politische und gesellschaftliche Zukunftsprojekte glaubwürdig waren – etwa wirtschaftliches Wachstum und Teilhabe am Wohlstand, soziale Absicherung oder Schutz von Freiheitsrechten. Wo glaubwürdige Versprechen fehlen, führen die unvermeidlichen Erfahrungen von Ungleichheiten in der Gesellschaft zu Enttäuschung, Wut und Rückzug. Damit Zuwanderung gelinge, müssten Menschen daran glauben, dass zumindest ihre Kinder und Enkelkinder einmal gleiche Chancen haben werden auf Teilhabe und Wohlstand. Dies verlange nach guten Schulen, aber auch nach Eingesessenen, die offen genug sind, anderen eine Chance zu geben.
Für die Zukunft brauche es daher ein neues Leitbild: Diversität statt Homogenität. Entscheidend für das Zusammenleben sei Augenhöhe. Ob in Chören, Fußballmannschaften oder Nachbarschaften – Begegnung und gemeinsames Handeln können Vorurteile abbauen. »Kontakt ist einer der wenigen wirksamen Mechanismen, um Gruppengrenzen zu überwinden.«
Auch für den Wohnungsbau sieht Nieswand darin eine Aufgabe: Architektur kann Begegnungen ermöglichen (selbst wenn viele Mieter zunächst lieber einen Aufzug hätten, der sie vor Begegnungen schützt, als einen Gemeinschaftsraum). Kontaktaufnahme ist oft schwierig und langwierig. Menschen, die viele Kontakte in ihrer Nachbarschaft haben, geht es allerdings nachweislich langfristig besser als jenen, die isoliert sind. Begegnungen brauchten deshalb Orte und Gelegenheiten. Zusammenleben bedeute natürlich nicht nur Harmonie, sondern auch Konflikte – die allerdings immer auch als Lernfelder des Zusammenlebens in der Zukunft verstanden werden müssten.
Der Vortrag von Herr Prof. Boris Nieswand als Video:
Wiebke Jessen
Marktforscherin, Heidelberg
Wie ticken unsere Mieter? – Die Sinus-Milieus als Instrument der Wohnungswirtschaft
Das Sinus-Institut erforscht seit den 1970er-Jahren den Wertewandel und die Lebenswelten der Menschen. Als Instrument dafür werden die so genannten Sinus-Milieus verwendet: ein wissenschaftlich fundiertes Modell, das Menschen mit ähnlichen Lebensauffassungen gruppiert und diese Gruppen beschreibt. Das Modell wird stetig fortgeschrieben. Die GWG Tübingen hat beim Sinus-Institut eine Analyse zu ihren Mieterinnen und Mietern in Auftrag gegeben.
Wohnen ist ein großes Thema, sagte Wiebke Jessen, denn die Sicherheit und Leistbarkeit des eigenen Lebens mache vielen Menschen Sorgen. Man rechnet mit erheblich steigenden Belastungen fürs Wohnen, mit größeren Schwierigkeiten, zu Wohneigentum zu kommen. Familien müssen Prioritäten setzen: Wer die gute Infrastruktur von Ballungsräumen nutzen wolle, müsse dort teurer wohnen. Wer günstiger wohnt, hat meist weniger Infrastruktur.
Tübingen unterscheide sich vom deutschen Durchschnitt: Hier seien manche Milieus überdurchschnittlich stark vertreten, andere dafür unterdurchschnittlich. Es gebe hier eher wenige Menschen aus dem prekären Milieu und auch weniger aus dem nostalgisch-bürgerlichen Milieu. Sogar die so genannte Mitte ist in Tübingen eher unterrepräsentiert. Dafür finden sich in Tübingen besonders viele Menschen aus zwei gebildeteren Milieus: so genannte Postmaterielle, worunter Sinus eine engagiert-souveräne Bildungselite versteht, sowie viele Expeditive. Das sind ambitionierte, kreative Menschen, urban, hip, digital, kosmopolitisch und vernetzt. In Uni-Städten in Westdeutschland trifft man sie besonders häufig.
Tübingen bildet somit eine Ausnahme innerhalb Deutschlands. Von dieser Ausnahme bilden die Mieterinnen und Mieter der GWG Tübingen wiederum auch eine Ausnahme. Denn gerade dort finden sich Häufungen der in Tübingen sonst seltenen Milieus. Das prekäre Milieu der harmonie-orientierten unteren Mitte, dazu mit den Traditionellen eine um Orientierung und Teilhabe bemühte Unterschicht, oft auch Ältere, die sich häufiger auch abgehängt und verbittert fühlen. Häufiger sind bei der GWG auch die Mitte als moderner Mainstream sowie das Milieu der Konsum-Hedonisten, die Spaßhaben und Lifestyle mögen, eher genervt sind von Nachhaltigkeit und dem, was »politisch korrekt« sein soll. Wobei der Anteil dieser Gruppen bei den Mieterinnen und Mietern der GWG auch überm deutschen Durchschnitt liegt.